Wv 252 "Das Wunder"

Wv 252 „Das Wunder“

Stolz gereiht auf der Klippe, schauen die schönsten Häuser auf den braunen Rio de la Plata. Sie versuchen die neuen, ärmlichen Pfahlhütten unten im Schlamm zu übersehen. Vor Jahren hatten die Engländer eine Bahn zwischen dem Fluß und der Klippe verlegt, man wollte die Küste als Kurort ausbauen. Aber die Engländer wurden verjagt. Nun trennten die verlassenen Schienen die Welt der reichen Häuser oben von der „Villa miseria“ unten.

Immer mehr Menschen wohnen dort am Fluß, obwohl bei Hochwasser ihr ganzes Hab und Gut weggespült wird. Aber bei Ebbe kann man so schön auf dem Sand spazierengehen. ich selbst ging mit meinem Hund Ulysses jeden Tag zum Rio, auch wenn es kalt war oder regnete. Dort habe ich Moretti kennengelernt. Er saß nach einem Unwetter in seinem Loch im Bahndamm, wo er auch wohnte, und versuchte seine nasse Wäsche zu trocknen. Um ihn zu trösten, gab ich ihm eine Geldstück, das er gleich in Wein umsetzte. Von diesem Tag an war ich sein Freund. „Du, Rubio…“ – den Hund aber sprach er mit Sie an. Er hatte immer etwas zu erzählen: was er in irgendeiner alten Zeitung gelesen hatte oder was passiert war; denn da unten kam sehr oft die Polizei. Moretti aber hatte nichts mit ihr zu tun, er war lediglich faul.

Eines Tage gegen Abend klingelte eine Frau von da unten an unserem Haus, das oben hinter der Klippe stand. Ich hatte sie bei meinen Spaziergängen schon gesehen. Sie war verlegen: Der Mann sei krank, die Kinder weinten und … Nun gut, sie wollte Zucker haben. Sie bekam auch ein ganzes Paket. „Ich werde es wieder zurückgeben“. „Nein, das brauchen sie nicht“, sagte ich. „Dios se lo paque, senor!“ Gott wird es mir bezahlen. Ich lächelte.

Einige Tage später, als ich zum Fluß ging, winkte mir Moretti schon von weitem zu: „Rubio!“ Ich wollte ausweichen, aber ohne erfolg. „Rubio, ich habe etwas für dich“, und er überreichte mir eine Kiste. Darin war fast ein ganzer Sack Zucker, zwar etwas mit Nudeln vermischt, aber es war viel Zucker. Ja, Moretti hatte wieder einmal beim Selbstbedienungsladen gebettelt, vielleicht auch im Morgengrauen beim Ausladen geholfen. Dort hatte man ihm einige aufgeplatzte Packungen gegeben.

Monatelang haben wir diesen Zucker durchsieben müssen.
03-06-2001

Video – Portrait

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