Wv 755 "Zwei Krähen"

Wv 755 „Zwei Krähen“

Hier in Hessen kenne ich zwei verschiedene Arten von Krähen: Das Ehepaar, welches seit Jahrzehnten in einem Baum nicht weit von unserem Haus „wohnt“. Dieses zieht regelmäßig jedes Jahr zwei bis drei Junge auf und bleibt das ganze Jahr hier. Die anderen kommen nur am Winteranfang, zusammengerottet in einer Schar von 20 bis 30 Vögeln. Diese sind einmal hier, einmal da, wo es eben etwas zum Essen gibt.

In Irland ist es anders, dort gibt es keinen richtigen Winter wegen des Golfstromes. In der Nähe von unserem dortigen Hause sind immer vier oder fünf graue und schwarze Krähen zu sehen.

Unser Nachbar – etwa einen halben Kilometer von uns entfernt – ist der junge John. Er ist der dritte Sohn des alten O’Leary und deswegen hat er auch nicht das große Gut des Vaters geerbt (in Irland erbt nur der älteste Sohn, die anderen gehen leer aus). Aber der Vater war großzügig und hat dem jungen John doch ein Grundstück für Haus und Garten überlassen. Dort lebt John mit seiner Frau und seinen 10- und 12jährigen Töchtern.

Diese Töchter haben darum gebeten, einige Hühner halten zu dürfen, mehr um mit ihnen zu spielen als sie nützlich zu haben. Nicht so der gute John; er arbeitet hart als Maurer und am Abend ißt er gern Eier. Die dutzend Hühner gediehen gut, haben auch einen Hahn bekommen und die Familie täglich einige Eier.

Eines Tages, es war Frühsommer und Sonntag, kam eiligen Schrittes John auf unser Grundstück. Er hielt in der Hand ein Gewehr und war sehr aufgeregt. Er jagte einer Krähe nach, welche ein Ei aus dem Gehege gestohlen hatte. Nicht zum ersten Mal, wie er sagte. „Ich erschieße den Dieb!“ schrie er. Die Krähe war natürlich schon weit weg, aber ich fürchtete, John würde seine Drohung wahr machen und die Krähe wirklich erschießen. John ist nämlich ein exzellenter Schütze.

Obwohl die Krähen uns im Sommer immer schon im Morgengrauen mit ihrem Lärm störten, erschießen lassen wollte ich sie trotzdem nicht. Ich schlug deshalb John vor, ihm einige Gipseier zu geben, die er dann zur Täuschung der Krähen in die Hühnernester legen sollte. Er zweifelte, daß es etwas bringen würde, aber wegen unserer Freundschaft (oder seines Interesses) willigte er ein.

Das Resultat war erstaunlich: Die Krähen haben zwei Gipseier gestohlen, dann aber ganz in der Nähe des Hühnergeheges fallen lassen und sind verschwunden. Ja verschwunden, nicht nur einige Stunden, sondern Tage, Wochen, sogar Monate.

Ich kann es mit menschlichem Verhalten nicht erklären, was die Krähen so sehr erschrocken hat: die Enttäuschung selbst oder daß sie eine Falle fürchteten, oder die mysteriöse, unerklärliche Verwandlung der echten Eier in Gipseier und daß sie deswegen diese gefährliche Stelle verließen? Ich weiß es nicht, da ich nie eine Krähe gewesen bin.

Esteban Fekete
Im November 2004

Video – Portrait

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