Wv 386 "Immer"

Wv 386 „Immer“

Im Theater gab es Ibsens „Wildente“. Ich ging an einem Samstagvormittag zur Vorverkaufskasse, um mir eine Karte zu besorgen. Mit meinen 25 Jahren arbeitete ich damals in einem Architekturbüro und lebte allein.

Die Kasse war noch geschlossen, aber einige Leute hatten sich schon eingefunden. An der Wand waren einige Stühle aufgereiht, und auf einem saß eine kleine Frau. Sie war älter als ich, in ihre dunklen Haare mischten sich bereits weiße. Sie hatte große Augen, dunklen Teint und war einfach, aber geschmackvoll angezogen. Sie schien müde zu sein.

Als der Kassenschalter öffnet, formierten sich die Leute zur Schlange. Die kleine Frau stand auch auf. „Bleiben Sie bitte sitzen“, bat ich, „Ihren Platz werde ich schon halten.“ Sie dankte mit einem Lächeln.

Es war ein eigenartiges Lächeln, das sich über ihren ganzen Körper ergoß und auch mich überflutete. Mit derartig absoluter Teilnahme hatte ich noch niemand lächeln gesehen. Als sie an die Reihe kam, erhob sie sich und kaufte drei Karten, aber nicht für die „Wildente“. Nebeneinander verließen wir den Vorraum, und sie sagte leichthin: „Spontane Kavaliere sind selten. Ich bin heute sehr müde und Ihnen deshalb dankbar.“ – „Ach“, wehrte ich ab, „ich muß Ihnen danken, Sie haben mich mit Ihrem wunderbaren Lächeln über Gebühr belohnt.“ – „Sind Sie von Kakanien?“ fragte sie. „Ja, vom ehemaligen.“

Ich ging noch ein wenig neben ihr her, nahm schließlich allen Mut zusammen und fragte, mit einer Zurückweisung rechnend, ob ich sie noch einmal treffen könne. Zu meiner Überraschung sagte sie ohne Umschweife zu, und wir verabredeten uns für den folgenden Samstag vor dem Theater.

Sie kam. Genauso einfach, aber gut gekleidet. Schnell ließen wir die kleine Stadt hinter uns und schlenderten an Häuschen mit ihren Vorgärten vorbei. Das Gelände wurde langsam hügeliger, in den Mulden lagen mehr oder weniger verwahrloste Schrebergärten, zwischen einigen war der Zaun schon eingefallen, verwilderte Obstbäume überall und vor einer halbverfallenen offenen Gartenlaube ein großes Faß. Beim Hineinbeugen gähnte es uns leer und modrig an.

Wir setzten uns in die Wiese. Mir kam es vor, als kennten wir uns schon lange, nein, als wären wir verwandt. Ausgesprochen hätte das nach plattem Gemeinplatz geklungen, so behielt ich es für mich. Alles ergab sich von selbst, ganz selbstverständlich und natürlich. Wir liebten uns gleich, ohne Nebengedanken und mit ganzer Hingabe. Ich war nicht ich, sie nicht sie, wir waren nur wir. Ein neuer Zustand.

War ich glücklich? Anders, ich fühlte mich wie angekommen, restlos sicher und aufgehoben.

Wir trafen uns jeden Samstag. Wir hatten Frühling, glücklicherweise regnete es nie an diesen Tagen. Ich erfuhr, daß sie verheiratet und Mutter eines fast erwachsenen Kindes war. Unsere Begegnung betrachteten wir als unvermeidliches Schicksal.

Video – Portrait

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